Das Rohkost-Dilemma

-Protokoll einer Therapiestunde-

(gefunden im Keller einer Imbissstube)

 

Therapeut: Guten Tag Herr Janus, was kann ich für Sie tun? Worum geht es?

Patient: Ich weiss nicht mehr, was ich soll!

Therapeut (lacht): Oh, möchten Sie damit vielleicht sagen „Ich weiss nicht mehr, was ich will“?

Patient: Nein, was ich will, weiss ich. Aber was ich soll, weiss ich nicht, weil das, was ich sollte, nicht das ist, was ich will!

Therapeut (lacht): Ach ja? Nun gut ... Was meinen Sie denn, was Sie sollten?

Patient: Ich sollte Aussteigen, Auswandern, in einer Kommune leben irgendwo im Urwald, Bäume pflanzen, Tiere jagen und Permakultur betreiben, so was in der Art.

Therapeut (schmunzelt): So, so ... und das wollen Sie aber gar nicht?

Patient: Nein, absolut nicht! Aber ich glaube, das wäre gut für mich. Stimmig irgendwie.

Therapeut: Stimmig in Verbindung mit was?

Patient: Na ja, meiner krassen Ernährung. Ich esse alles roh, viele Tropenfrüchte, auch Fleisch und Fisch, alles roh. Deshalb wär’s gut, ich würd’ anders leben. Wilder. Einfacher. Ohne Auto mit Sitzheizung. Halt mehr alternativ.

Therapeut: Und genau das wollen Sie nicht? Sie haben gar keine Lust auf all dies?

Patient: Gott bewahre! Ich hasse Gartenbau! Ich hasse Kommunen! Und lästige Insekten!

Therapeut (lacht): Du meine Güte! Offenbar ist hier einiges Durcheinander. Ich merke natürlich, dass etwas Sie ganz schön belastet. Da kam jetzt ein ganzer Schwung Wut rüber!

Patient: Ja, kann sein. Ich bin wütend, dass ich so ganz und gar nicht der Typ bin für ein alternatives Leben. Aber ich sollte es besser sein, dann wär alles leichter!

Therapeut: Leichter? Im Sinne von stimmiger wegen Ihrer ungewöhnlichen Ernährung? Wollen Sie die denn überhaupt? Warum essen Sie denn so anders?

Patient: Ist so passiert. Was neues ausprobiert, hängen geblieben, mich verändert und jetzt vertrag ich nix anderes mehr. Dumm gelaufen, aber so isses jetzt halt.

Therapeut (überlegt): Also auch Brot essen Sie nicht mehr?

Patient: Nein, ist nicht roh.

Therapeut: Ach? Wieso? Vollkorn ist doch roh!

Patient: Nicht als Brot. Das war ja im Ofen! Die Hitze macht alles kaputt.

Therapeut: Ach, ich verstehe, Sie essen nichts mehr, was mit Hitze in Berührung kam. Und Torte? Die ist ja kalt.

Patient: Nein, Torte ist eine Mischung industrieller Produkte, die ist nicht roh! Ich esse nur, was direkt gewachsen ist. Frucht vom Baum ab in den Mund, Gemüse aus dem Boden, ab in den Mund. Tier jagen und reinbeissen. So in etwa muss man sich das vorstellen.

Therapeut (schweigt einen Moment): Das ist krass.

Patient: Sag ich ja! Wie soll man mit so etwas Verrücktem hier leben? Wo doch alle normal sind und alles essen, was sie wollen?

Therapeut: Darüber müsste ich nachdenken. Bleiben wir erst mal bei Ihrem Anliegen. Wie ich Sie verstanden habe, erwarten Sie von mir, dass ich Sie irgendwie dazu bringe, es zu lieben, aussteigen zu wollen.

Patient: Genau! Ich will lieben lernen, was ich tun sollte, damit alles gut zusammenpasst in meinem Leben.

Therapeut: Und anders essen kommt nicht mehr in Frage? Haben Sie das schon ausprobiert?

Patient: Mehrmals! Ging alles schief, ich wurde immer krank und fühlte mich elend. Ich muss bei der Rohkost bleiben, wirklich.

Therapeut;: Gut, gehen wir davon aus, das dies so ist. Dann frage ich Sie jetzt: Lieben Sie es, roh zu essen?

Patient: Oh ...äh... das weiss ich gar nicht. Ich mach’s einfach, weil es das Beste ist für mich. Ob ich es liebe? Keine Ahnung? Manchmal glaube ich. Und manchmal verwünsche ich das rohe Zeug. Ich bin da zerrissen irgendwie.

Therapeut: Gut. Probieren wir folgendes: Stellen Sie sich vor, Sie wären in besagtem Urwald, in einer Kommune, mit lauter Aussteigern und vielen Früchten und all dem: Wovor genau haben Sie Angst?

Patient: Dass ich mich völlig verloren fühle! Allein und weit weg von allem Vertrauten! Kein eigenes Zimmer, kein sauberes Bad, kein Fernseher, wenn mal nichts läuft.

Therapeut (überlegt): Ich möchte etwas ausprobieren. Sagen Sie doch einmal ganz laut: Ich fühle mich verloren!

Patient (zögert, dann leise): Ich fühle mich verloren.

Therapeut: Etwas lauter, bitte. Und stehen Sie auf! Strecken Sie die Arme weit von sich.

Patient: Echt jetzt?

Therapeut: Ja, ja machen Sie es einfach mal!

Patient (steht auf, streckt Arme aus, zögert, und ruft laut): Ich fühle mich so verloren!!!

Therapeut: Nochmal! Lassen Sie den Satz auf sich wirken! Versuchen Sie, in ihn hineinzufallen!

Patient (schreit, zittert leicht): Ich fühle mich verloren! Hilfe! Hilfe!

Therapeut: Weiter! Sagen Sie es Ihrer Mutter!

Patient (verwirrt, nimmt die Arme runter): Was?

Therapeut: Sagen Sie „Mami, hilf mir! Ich fühle mich verloren!“

Patient: Das ist nicht Ihr Ernst! Was hat denn meine Mutter damit zu tun?

Therapeut: Das werden wir gleich sehen. Rufen sie einfach.

Patient: Mami, Mami, hilf mir! Ich fühle mich so verloren! Hilfe! Hilfe!

Therapeut: Noch lauter, bitte!

Patient: (setzt sich wieder hin, verschränkt die Arme vor der Brust): Nee, das passt nicht, meine Mutter hat mit dem Gefühl nichts zu tun!

Therapeut (seufzt): Ich denke doch. Aber kein Problem. Wir kehren vielleicht nachher noch einmal dahin zurück.

Patient: Ich hab eher das Gefühl, ich müsste es Gott sagen. Oder der Natur. Meine Mutter ist ja gekocht.

Therapeut: Wie bitte? Gekocht? Meinen Sie „eingeäschert“?

Patient: Nein! Ich meine, sie isst ja nur Kochkost-Zeug. Sie gehört in mein altes Leben. Jetzt gehöre ich der Natur und ihren Gesetzen. Ich müsste also bei Gott oder so reklamieren.

Therapeut: Ok, sagen Sie es doch einmal Gott, genau wie eben.

Patient (zögert, steht dann auf und ruft): Gott, warum hast Du mich verlassen!

Therapeut: Nein, nein, nicht diesen Spruch! Den sagte Jesus, als er am Kreuz hing! Hier geht es doch um Sie!

Patient: Sorry. Das lag mir auf der Zunge, bevor ich nachdachte.

Therapeut: Schon gut, kann man als freudschen Versprecher durchgehen lassen. Aber jetzt, bitte, wieder Ihr eigener Kontext.

Patient (ruft, in theatralischer Haltung): Gott, oh mein Gott, ich fühle mich so verlassen! Was hast Du getan! Wieso hast Du mich aus allem herausgeworfen, was ich liebte! Nimm mich zu Dir, wenn Du mich schon willst. Ich bin zu klein, um neben Deiner Grösse zu bestehen. Ich bin zu schwach, um Deine Stärke zu ertragen. Ich ...

Therapeut: Halt, halt! Nichts solches! Wir sind hier nicht in der Kirche! Bleiben Sie nur bei dem einen Satz: „Gott, ich fühle mich verloren!“

Patient: Aber ich muss ihm doch erklären, warum!

Therapeut: Gott muss man nichts erklären. Gott sieht alles, Gott weiss alles.

Patient: Jetzt klingen Sie grad wie der Pastor in meiner Kindheit.

Therapeut (rauft sich die Haare): Stimmt, tut mir leid. Sie machen mich ganz wirr! Ich muss kurz nachdenken.

Patient: Ich hatte jetzt beim Rufen wirklich das Gefühl, Gott ist die bessere Person zum Ansprechen.

Therapeut (grübelt eine Weile): Ja, das habe ich gesehen, sie wirkten authentischer. Eigentlich kann das nicht sein, dass das Anrufen einer Projektion heilsamer ist, als das Anrufen eines Elternteils. Aber möglicherweise haben Sie durch ihre Ernährung eine schizoide Störung erlitten, so dass ihre neue Persönlichkeit einen neuen Elternteil braucht. Gott wäre da nicht die schlechteste Wahl. Vielleicht ein wenig überheblich, aber brauchbar ganz sicher.

Patient: Schizophren? Ich?

Therapeut: Nein, schizoid, das ist etwas anderes. Sie können das später googeln, ich muss erst herausfinden, wie wir freilegen können, was sie wirklich brauchen in Ihrem Zustand!

Patient: Also, ein Durian wäre nicht schlecht jetzt!

Therapeut: Wie bitte? Durian? Was soll das sein?

Patient: Eine ziemlich fiese Frucht. Stinkt, hat Stacheln, ist aber total lecker, wenn man drauf ist!

Therapeut (schnauft laut aus): Du meine Güte! Ich meinte mit „brauchen“ doch nichts zu essen, sondern ich meinte das psychologisch!

Patient: Ach ja, klar, sorry. Mein Instinkt meldete sich einfach grad bei dem Wort „brauchen“. Ist so eine Art neue Fixierung.

Therapeut: Das sieht mir aber verdächtig nach einer Essstörung aus! Könnte es sein, dass diese neue Ernährungsweise sie so sehr an das Essen bindet, dass sie auch mental bewegungsarm geworden sind und sich daher die Vorteile einer Lebensweltänderung nicht mehr realistisch vorstellen können?

Patient: Äh ... Sie sind doch der Therapeut, sagen Sie es mir.

Therapeut: Richtig. Trotzdem: Denken Sie darüber nach!

Patient: Kann ich nicht, ich bin ja nur der Patient!

Therapeut: Aber denken müssen Sie schon selbst!

Patient. Na gut. Ich versuch’s mal. Wie war das noch? Weil ich rohe Sachen esse, bin ich im Kopf steif wie ein Brett?

Therapeut: Banal gesagt, ja!

Patient: Das ist hart ...

Therapeut: Bretthart, wenn Sie so wollen.

Patient: Aua, das war jetzt aber gemein!

Therapeut: Weh wirkt.

Patient: Na, das ist aber jetzt auch ganz schön pauschal, was?

Therapeut: Alles Wahre ist halt einfach.

Patient: Stimmt, das sagte Burger auch immer!

Therapeut: Burger? Meinen Sie McDonalds?

Patient (lacht): Nein, nein! Oh Mann, sie lesen eindeutig die falschen Bücher! Guy Claude Burger war der Begründer meiner Essstörung. Nein, Bockmist, ich meine natürlich: Gründer meines gestörten Essens. Nein, verdammt, ich bin schon ganz wirr im Kopf - was wollte ich sagen?

Therapeut: Dass ein Herr Burger Sie zu Ihrer merkwürdiger Ernährungsweise gebracht hat.

Patient: Ja, richtig! Er hat es vorgelebt und ich gehöre jetzt dazu.

Therapeut: Zu was? Zu seiner Familie?

Patient (ereifert sich): Nein, seiner Philosophie! Seiner Art zu denken und zu fühlen! Sein Weltbild! Seine Sicht der normalen Welt! Einfach alles, was uns umgibt! Alles Rohe und Reine! Alles Falsche und Fehlgeleitete! Alles ....

Therapeut: Amen.

Patient: Wie bitte?

Therapeut: Ich sagte „Amen“. Sie klangen jetzt, wie wenn sie beten, genauer: anbeten. Sind Sie vielleicht in eine Art Sekte geraten? Sie erwecken in mir den Eindruck.

Patient (denkt einen Moment nach): Tja, irgendwie schon, was? Ich musste zwar mein Geld nicht abgeben, aber ... eigentlich doch, weil ich so viele Früchte von denen bestelle. Mmh ...

Therapeut: Was? Dieser Herr Burger verkauft Ihnen auch noch das Essen? Das klingt aber verdächtig nach Kuhhandel und Machtmissbrauch, meinen Sie nicht? Vor allem, da Sie offenbar nichts anderes mehr essen wollen!

Patient: Können. Wollen schon, aber können halt nicht.

Therapeut: Behaupten Sie! Ich vermute eher, man hat Sie betrogen und mittels einer fixen Idee geschickt abhängig gemacht, so dass Sie geradewegs die metabolische Materialisierung einer wahnhaften Angst multistrukturell entfaltet haben!

Patient: Häh?

Therapeut: Anders gesagt: Weil Sie Angst haben, dass Sie das normale Essen nicht vertragen, vertragen Sie es auch nicht und werden allergisch!

Patient: Uups! Das ist aber eine gewagte These! Wie soll ich denn beweisen, dass es nicht so ist?

Therapeut: Essen Sie einfach, was wir alle essen! Langen Sie tüchtig zu! Hemmungslos! Dann gibt Ihre Angst auf, und der Genuss und die Freiheit kehren zurück.

Patient: Amen.

Therapeut: Wie bitte?

Patient: Das klang jetzt von Ihnen wie ein Tischgebet. Eine Weihe für die gekochte Welt!

Therapeut: Gekochte Welt? Was soll das denn wieder heissen? Meinen Sie die Welt nach einem Atomschlag?

Patient (lacht): Na, die wäre ja dann eher schon schwarz gebraten, nicht wahr? Nein, ich meine unsere Welt voller mit Kochkost ernährten Menschen.

Therapeut: Also die normale Welt.

Patient: Genau. Oder, nein: Die Welt, die Sie kennen und die Sie für normal halten. Für mich ist sie das Gegenteil. Unnormal. Entartet, sozusagen. Deshalb will ich ja auch weg aus ihr. In die Natur. Raus zu den Alternativen.

Therapeut: Womit wir wieder am Anfang wären.

Patient: Ja, hoffentlich aber auch! Ich brauche schliesslich eine Lösung!

Therapeut: Ich glaube, Sie brauchen was Richtiges zu Essen!

Patient: Ha! Sehen Sie? Jetzt haben Sie’s selbst verbockt! Sie haben bei „brauchen“ sofort an was zu Essen gedacht! Sie sind nämlich selbst auch aufs Essen fixiert!

Therapeut: Wie bitte?

Patient: Ach, vergessen Sie’s. Ich glaub, das wird heute nix mehr. Wir müssen das ein anderes Mal fortsetzen.

Therapeut: Meinen Sie, das hilft Ihnen?

Patient: Sagen Sie’s mir! Ist mir überhaupt zu helfen?

Therapeut (überlegt, schüttelt dann den Kopf): Nein, Sie haben zu viele Ausreden im Kopf. Wissen Sie was? Sie gehen jetzt nach McDonalds und testen meine Theorie und ich fahre nach Hause, esse den lieben Abend lang nur Möhren und teste ihre Theorie!

Patient: Ich werde sterben, wenn ich das tue!

Therapeut (seufzt): Genau! Aber, wenn es ein Trost für Sie ist: Ich auch! Ich vertrage nämlich nichts Rohes!

Ende   devil