Prägungen - Wie die Natur sich Grenzen setzt

(Auszug aus dem Kapitel 2 "Instinkt und Umwelt" / Die Philosophie des Rohen)

 

Im Oktober 1920 wurden in einer Höhle bei Midnapore (Indien) zwei kleine Mädchen gefunden, bewacht von einer Wölfin. Das Tier war äusserst aggressiv und verteidigte die Menschenkinder und ihre beiden Wolfsjungen mit ihrem Leben. Dennoch gelang es Einheimischen, die beiden Mädchen zu befreien. Man brachte sie in das Waisenhaus von Midnapore und taufte das ältere der Mädchen (ca. 8 Jahre) auf den Namen Kamala, das jüngere (ca. 18 Monate) auf den Namen Amala. Beide waren vermutlich nicht miteinander verwandt und wurden von der Wölfin zu verschiedenen Zeitpunkten »adoptiert«.

Die beiden Mädchen liefen auf allen vieren, wehrten sich bei Annäherung mittels Kratzen und Beissen, lehnten gekochte Nahrung ausnahmslos ab und waren angeblich in der Lage, rohes Fleisch über eine Entfernung von mehr als 50 Metern zu riechen. Ihr Gehörsinn war äusserst sensibel und ihre Artikulationen auffallend animalisch. Schon ein Jahr später starb Amala an den Folgen eines Nierenleidens, woraufhin Kamala deutliche Anzeichen von Trauer zeigte und sich fortan verstärkt den anderen Menschen und ihrer »menschlichen Welt« öffnen konnte. Bis zu ihrem Tod 1929 (Typhus) gelang es ihr, einige wenige Worte zu lernen. (P.J. Blumenthal, »Kasper Hausers Geschwister«, s. Literaturl.)

Seit dem 16. Jahrhundert sind Fälle sogenannter »Wolfskinder« wiederholt dokumentiert worden. Nicht immer spielten Wölfe dabei die Rolle der Adoptiveltern, auch Bären, Schafe und Kühe nahmen sich der ausgesetzten Menschenkinder an. Stets zeigten die zufällig aufgefundenen Kinder starke Merkmale einer nahezu unwiderruflichen Animalisierung. Neben den oben erwähnten Verhaltensweisen und Fähigkeiten wurde auch von Phänomenen wie starker Haarwuchs, enorme Unempfindlichkeit gegen Kälte und Hitze und die Unfähigkeit zu lachen berichtet. Wie es scheint, besitzt der Mensch in seiner frühen Kindheit (Prägungsphase) eine ausserordentliche Anpassungsfähigkeit an die Gegebenheiten seiner Umwelt. Leben zu jedem Preis. Und sei es als Tier.

Das Phänomen der Wolfskinder ist auch in Hinblick auf die Mechanismen des Instinktes aufschlussreich. Von vielen dieser Kinder wurde berichtet, dass sie ausschliesslich rohes Fleisch essen wollten, rohes Gemüse hingegen lehnten sie konsequent ab. Das verwundert auf den ersten Blick. Man sollte meinen, neben der Fleischkost würde der Instinkt die Kinder auch zu Pflanzenkost tendieren lassen. Doch die Beobachtungen zeigen, dass die Raubtierprägung, die sich bei den im Umfeld von Wölfen und Bären heranwachsenden Kindern vollzog, den Instinkt regelrecht eingrenzt hatte: Er wurde nur noch benötigt, um rohes Fleisch zu wittern. Die Geruchswahrnehmung von Pflanzendüften wurde ausblendet. Der Allesfresser Mensch reduzierte sich in der Raubtierumwelt offenbar zu einem vollständigen Fleischfresser. Der Instinkt passte sich an das Milieu an.

In Notsituationen geht das Leben erstaunliche Wege. Schon die Tatsache, dass die Wolfskinder als Baby mit der Milch ihrer animalischen Adoptiveltern gross wurden, zeugt von einer grossen Spannbreite des Instinktes. Die Zusammensetzung der Milch eines Lebewesens ist immer abgestimmt auf die Biologie der jeweiligen Art. Dennoch erteilt der Instinkt in besonderen Situationen quasi die »Erlaubnis«, sich artübergreifend zu versorgen. Geruch und Geschmack artfremder Milch scheinen, wenn es um Leben und Tod geht, keine grosse Rolle zu spielen, oder sind zumindest weniger schlecht, als sie es sind, wenn man im üblichen »Allesfresser-Milieu« des Menschen gross wird.

Auf jeden Fall haben die in der Wildnis ausgesetzten Menschenbabys keine instinktive Sperre gegenüber Wolfs- oder Bärenmilch gehabt. Zudem war die Milch dieser wilden Tiere vollumfänglich roh und unverändert. Somit war die Grundlage gegeben für eine zuverlässige instinktgesteuerte Regulierung innerhalb dieser speziellen Rahmenbedingungen. Bedingungen, die uns zivilisierten Menschen mit der Verwendung von pasteurisierter, also thermisch veränderter, Kuhmilch und ihren Produkten nicht gegeben sind.

Während Wolfskinder in einem zwar ungewöhnlichen, aber dennoch in sich stimmigen Umfeld der Natur aufwachsen, verwenden wir Tiermilch in einem unnatürlichen (Denaturierung, massloser Konsum) Umfeld. Es ist nicht die Kuhmilch ansich, die uns Menschen schadet, sondern es sind einzig und allein die entarteten Umstände, wie wir sie zu uns nehmen.

Auf diese Umstände verweist auch der Privatforscher Reinhold Schweikert in seinem Dossier »Rohkost Praktikabel«. Seit mehr als einem Jahrzehnt verwenden er, seine Familie und die Mitarbeiter des Rohkost-Projektes PARADIES-INSEL-SYSTEM (Portugal) rohe Ziegen- und Kuhmilch, ohne die zivilisationstypischen Symptome, wie z.B. Verschleimung, Neigung zu Infektionskrankheiten, Allergien und chronische Entzündungen, aufzuweisen. Mögen diese Beobachtungen auch kaum wissenschaftliche Beweiskraft besitzen, so zeigen sie immerhin die Tendenz, dass der Körper sich im Rahmen einer vollständig rohen Ernährung auf eine Vielzahl von Produkten einzustellen vermag und dabei gesund bleiben kann. Im Falle des Schweikert-Projektes unterstützen einen dabei allerdings auch die ausserordentlich gesunden Umweltbedingungen vor Ort (Arbeit und Privatleben finden ausschliesslich ausserhalb von Räumen statt; auch geschlafen wird draussen). Ein Leben, voll und ganz gemäss dem Umweltinstinkt.

Die Prägung eines Lebewesens auf ein bestimmtes Nahrungsumfeld, ist bei allen Tieren verbreitet. So weiss man z.B. von den Orang-Utans, dass sie ihren Jungtieren die Standorte bestimmter Durianbäume zeigen. Und Schimpansen demonstrieren ihren Jungen, welche Insekten essbar sind. Durch die Beobachtung der Heranwachsenden, was die Eltern wo zu sich nehmen, findet automatisch eine Eichung und Rahmensetzung in Bezug auf die in Frage kommende Nahrungspalette statt. Dem Instinkt wird in dieser Zeit die Struktur seines Wirkungsbereiches mittels Lernerfahrung eingeprägt.

Was aber nicht heisst, dass er von den erlernten Mustern gänzlich verdrängt oder gar ausgeschaltet wird. In ungewöhnlichen Situationen ist er nach wie vor zu allen notwendigen Leistungen fähig. So haben Biologen beispielsweise in den 1990er Jahren eine Gruppe Schimpansen in ihrem natürlichen Lebensraum absichtlich mit niedrig dosiertem Strychnin vergiftet, um zu sehen wie die Affen auf diesen fatalen Zustand reagieren. Zum Erstaunen der Forscher, versorgten sich die vergifteten Tiere umgehend mit Wildpflanzen, die sonst nicht zu ihrem üblichen Nahrungsspektrum gehörten. Die Wissenschaftler rätselten darüber, woher die Affen wissen konnten, welche Pflanzen das Gegengift zum Strychnin enthielten. Die Antwort ergibt sich von allein, wenn man die Mechanismen des Instinktes kennt: die betreffenden Pflanzen haben einfach anziehend gerochen!

Natürlich konnten die Forscher diesen Geruch selbst nicht wahrnehmen. Weder verfügten sie über den sensiblen Geruchssinn eines Tieres, noch waren sie selbst mit Strychnin vergiftet, damit diese Pflanzen für sie hätten duften können, noch hatten sie Kenntnis und Erfahrung bezüglich der diffizilen Mechanismen des Instinktes. So blieb das Rätsel offiziell ungelöst.(Quelle: IMAG/1990 s. Literaturl.)

Das Phänomen der Prägungen ist bei uns Menschen auch mit verantwortlich für unsere Vorlieben beim Essen. Je nach Art der Mahlzeiten, die in unserem Elternhaus üblich waren, entwickeln wir unbewusst ein bestimmtes Bild davon, wie Essen zu sein hat. So werden die einen eher Fleisch- und Wurstesser, andere mögen lieber Käse, wieder andere Fisch, und nicht wenige versorgen sich regelmässig am liebsten mit allen Variationen von Fastfood.

Prägungen finden auf verschiedenen biologischen Ebenen in unserer frühen Kindheit statt. Sie setzen einen Rahmen für unsere Art zu denken, zu fühlen, uns zu ernähren, uns zu bewegen und zu sprechen. Die Art und Weise, wie wir generell mit den Dingen der Welt und uns selbst darin umgehen, ist durchdrungen von Prägungsmustern.

Arthur Janov beschreibt in seinem Buch »Frühe Prägungen« (s. Literaturl.), dass er in seinen Therapien entdeckte, dass die Umstände der Geburt Einfluss sogar darauf nehmen können, welche Methode des Freitodes man in Zeiten tiefer Depression unbewusst anstrebt. So hatte beispielweise ein Patient immer wieder Visionen davon, wie er sich mit Dynamit den Kopf wegsprengt. Er wollte endlich diesen dauernden Druck in seinem Kopf loswerden, den er schon Zeit seines Lebens verspürte und der ihn im Alltag manchmal regelrecht um den Verstand brachte. Während der Therapie und der gleichzeitig stattfindenden biographischen Nachforschungen stellte sich heraus, dass er als Baby mit dem Kopf ungewöhnlich lange im verengten Geburtskanal steckengeblieben war. Es war dieser Druck, der sich ihm als besonderer Erfahrungswert eingeprägt und über Jahrzehnte hinweg zu den erwähnten Gefühlen und Gedanken geführt hatte.

Die Macht der Prägungen ist nicht unterschätzen. Im Rahmen einer rohköstlichen Ernährung erklärt sich so auch das weitverbreitete Phänomen, dass viele Mühe haben mit dem Verzehr von rohem Gemüse in seiner reinen Form. Sogar wenn dieses im Rahmen einer Instincto-Diät anziehend riecht und äusserst lecker schmeckt: Gemüse scheint in einem keine wirkliche seelische Resonanz zu erzeugen. Die Befriedigung beim Essen geschieht ohne inneren Widerhall, scheint keine wirkliche »Wärme« zu verströmen. Gemüse ist nur wirklich lecker als angemachter Salat, in der Suppe oder als dampfende Beilage zu den Hauptattraktionen Fleisch, Fisch oder Kartoffeln. Auf diese Darreichungsform von Gemüse sind nahezu wir alle in dieser Gesellschaft mehr oder weniger stark geprägt. Früchte hingegen, werden auch im Kochkost-System roh gegessenwenn überhaupt.

Kein Wunder also, finden die früchteorientierten Rohkostmodelle (Wandmaker, Konz u.a.) mehr Zulauf als das salatfreie, purgemüsige und zu allem weiteren Schrecken auch noch Rohfleisch verwendende Instincto-Konzept.

Welche Folgen Prägungsmuster im Bereich der Genussmittel haben können, erzählte mir einmal eine Rohköstlerin, die seit vielen Jahren Instincto praktizierte, aber immer wieder Rückfälle mit Kaffee hatte. Mehrmals gelang es ihr für einige Wochen auf diesen schwarzen Sud zu verzichten, doch stets schien eine starke, unbewusste Kraft sie zurückziehen, und so trank sie dann wieder über Monate jeweils am Morgen eine kleine Tasse gesüssten Filterkaffee.

Ihre Erfahrung war, dass Kaffee im Körper bestimmte Selbstreinigungsprozesse zu blockieren schien. Zwar beeinträchtigte diese eine Tasse am Morgen nicht den Genuss von tropischen Früchten, rohem Fleisch und rohem Fisch, jedoch reichten auch Kassia und Wasser nicht aus, um diese scheinbar wenigen »Giftstoffe« des Kaffees vollständig im Verlaufe des Tages zu entgiften. Die Folge: es kam zu einem kumulativen Effekt. Die junge Frau stellte an sich selbst fest, dass ihre Haut »älter« wirkte in dieser Kaffeezeit. Schweissausbrüche und Wassereinlagerungen im Gewebe waren weitere Folgen. Sobald sie nämlich für einige Wochen zu einer reinen Instincto-Rohkost zurückkehrte, verjüngte sich die Haut wieder, wurde zarter und weicher, und auch die unangenehmen Körpergerüche und Schweissausbrüche verschwanden. Gleichzeitig aber stürzte sie der Verzicht auf dieses Genussmittel in das Gefühl, mit der ganzen Welt nicht mehr recht verbunden zu sein. Die Folge: Schweigsamkeit und eine umfassende Zartheit, die im Berufsleben alles andere alles brauchbar war und dementsprechend unerträglich wurde.

Sie versuchte dieses hartnäckige Problem mit verschiedenen Therapiemethoden zu entschlüsseln und begriff schliesslich den wahren Hintergrund ihrer Sucht: Kaffeetrinken hatte für sie unbewusst die Bedeutung, »erwachsen« zu sein. Schon seit ihrer Jugendzeit wollte sie den schwarzen Sud trinken, weil es in der Tradition ihrer Herkunftsfamilie stand. Dort gehörte es zum Leben wie das »tägliche Brot«. Doch war sie in der Familie die einzige, die genau dieses Genussmittel ob seinem bitteren Geschmack nicht vertrug, ja, es sogar regelrecht verabscheute. Vater, Mutter, Brüder, Grosseltern, Tanten und Onkel, alle tranken esnur sie kriegte es einfach nicht runter.

Während einer längeren Probezeit in einem Kloster, gelang es ihr dann mittels einem Zufall, sich doch noch an dieses bittere Gebräu zu gewöhnen. In dem Kloster gab es nämlich ausser Kaffee, Milch und Wasser gar nichts anderes zu trinken! So verfiel sie auf die Idee, stark verdünnten Milchkaffee zu sich zu nehmen, genau so lange, bis ihr Körper tatsächlich seine »Widerspenstigkeit« aufgab. Von Anfang hatte sie das unterschwellige Gefühl, dass ihr das Zeug irgendwie schadete, aber die Befriedigung darüber, dass sie jetzt endlich voll und ganz zu den »Erwachsenen« mit dazu gehörte, legte sich wie eine warme Hand auf ihre Seele.

Später, während der verzweifelten Kaffee-Rückfälle bei ihrer Instincto-Ernährung, träumte sie immer wieder von einer uralten Frau, die ihr sagte, dass sie nicht aus ihr weggehen würde und sie (die Träumende) keine Chance haben würde, sie loszuwerden. Falls es ihr dennoch gelänge, würde sie schon einen Weg finden, wieder zurückzukommen. Nach diesen seltsamen Körperträumen (s. II/4.5.) wurde ihr schliesslich bewusst, dass der Verzicht auf Kaffee eine Loslösung von der mütterlichen Linie ihrer Familie darstellte und dass dieses »dunkle, schwere Körpergefühl«, dass sie während ihrer Kaffeephasen hatte, genau dieses Gefühl war, dass auch ihre Mutter in besonderer Weise schon immer ausgestrahlt hatte. Anders gesagt: Der traditionell hohe Kaffeeverbrauch von Mutter, Grossmutter und Tanten schien unmittelbar an einen körperlichen Gesamtausdruck gekoppelt zu sein, gleichsam einem »dunklen Erbe«. Die Rohköstlerin erlebte also die Macht der Prägungen und die Hintergründe von Sucht und dem Gefühl einer »Besessenheit von etwas Dunklem« in einem sowohl faszinierenden wie auch erschreckenden Ausmass.

Die erwähnten Beispiele machen deutlich: Instincto ist, was unseren inneren Prägungshorizont der Ernährung angeht, eine echte Zumutung. Psychophysische Prägungen der »Gekochten Welt« kommen den ebenso wahren, instinktiven Regungen unserer inneren Natur in die Quere. Zwei uralte Kräfte, die sich Paroli bieten. Dieser Konflikt unterminiert die eigene Rohkostpraxis (und im weiteren Sinne auch viele andere Diätformen) in unterschiedlichster Art und Weise. Er verunmöglicht sie nicht. Aber er macht es mitunter sehr schwer, dauerhaft diszipliniert zu sein. Ohne dabei zu ermüden. Oder heimlich zu leiden.