Der verwunschene Garten.

(Buchauszug Teil II/2.1 / siehe auch Bildergalerie "Der verwunschene Garten" und Erläuterungen "Der Mensch im Bann des Feuers")

 

Während meiner Jugendzeit in Hohenlimburg, einem kleinen Städtchen am Nordfuss des Sauerlandes (NRW), entdeckte ich zufällig unterhalb der Autobahnbrücke im Westen der Stadt, nahe des linken Lenneufers, ein ganz und gar merkwürdiges Areal.

Zuerst begegnete mir dieser seltsame Geruch. Schwer und durchdringend hing er über der Landschaft. Süsslich, leicht faulig, irgendwie fremd und bedrohlich. Die Bäume in diesem Areal waren von niedrigem, knorrigen Wuchs, standen dicht beieinander und ihre Rinde lag verborgen unter einer dicken Schicht Flechten. Beim Laufen federte der Boden nach, wirkte locker, irgendwie torfig und an manchen Stellen sank man plötzlich ein. Grosse Mengen gedrungener Tomaten- und Kartoffelpflanzen hatten sich am Rande des Dickichts über eine weite, offen liegende Fläche ausgebreitet, schufen ein surreal anmutendes Strauchwerk, deren aromatischer Duft sich mit dem süsslichen Geruch des Untergrundes mischte.

An manchen Stellen schillerten grünlich-gelbe Pfützen, und ganz hinten, nahe einem der Brückenpfeiler, trat eine grosse gelbliche Wasserfläche zutage, die teils umsäumt war von Schilf und an deren freien Uferstellen sich dicke Algenschichten aufgewölbt hatten. Der Geruch dieser Nasszonen war äusserst penetrant.

Zwischen dem Strauchwerk des Areals lagen vereinzelt seltsame Gebilde: Kugelförmig, gross wie ein Fussball und mit dem Boden völlig unverbunden, erweckten sie den Eindruck eines mysteriösen »Wanderpilzgewächses«. Stiess ich sie mit dem Fuss an, zerfielen sie in mehrere Stücke und offenbarten eine radiale Innenstruktur. Sie sahen aus wie gepresster Staub, so als ob Staub und Pilze gemeinsam eine Symbiose eingegangen wären.

War es überhaupt eine Lebensform?

Viele Jahre später nahm ich meine Freundin einmal mit in dieses verwunschen wirkende Areal. Auch ihr gruselte ziemlich dort, und sie wollte schon nach kurzer Zeit wieder umkehren. Die Gegend wirkte trotz der vielen Pflanzen seltsam tot. Alles schien durchdrungen von Verfall und von Fäulnis. Das ganze Gebiet wirkte irgendwie falsch.

Vom Flussufer aus war zu erkennen, dass dieses Areal von einem Damm künstlich umschlossen wurde.

Wer hatte das hier gebaut?

Und warum?

Erst Jahre später erfuhr ich die Antwort: Der »verwunschene Garten« befand sich auf den Überresten einer ehemaligen Kläranlage. Der torfige Boden mit dem seltsamen Geruch war jahrzehntealter, verrotteter Klärschlamm. Tausende Tonnen menschlicher Ausscheidungen, die in der Kläranlage ausgefällt und in grossen Becken endgelagert wurden, hatten über die Zeit hinweg ein einzigartiges Biotop geschaffen. Nirgendwo sonst fand ich je wieder diese seltsamen »Staubpilze«. Nirgendwo sonst derart tellergrosse, hellweisse Champignons. Und solche dick verkrusteten Bäume.

Damals wunderte und gruselte ich mich.

Heute ahne ich die Erklärung. Und diese Erklärung ist nicht weniger unheimlich, nicht weniger befremdlich, als dieser verwunschen wirkende Garten mit seinem süsslichen Geruch: Dort, im Schatten der Autobahnbrücke, lag und liegt das Reich der Maillard-Substanzen. Ein Reich, geschaffen mithilfe einer Unmenge weitgehend unerforschter biochemischer Stoffe, die den Nährboden gebildet hatten für einige zähe Pflanzen, denen es gelang, sich diesem überdüngten Areal anzupassen und ihm dabei surreale Gestalt verliehen. Eine Gestalt, welche die molekulare Besonderheit des Untergrundes in beklemmender Weise greifbar werden liess.